Wird in den Europawahlen national oder europäisch gewählt? Eine Untersuchung der Visegrád-Staaten.

 

Niedrige Wahlbeteiligung, wenig Interesse – die Europawahlen haben es schwer. Greta Johanna Geißler untersucht unsere östlichen Nachbarn. Dabei beantwortet sie diese Fragen: Wer sind die Visegrád-Staaten? Was ist der Second-order Elections Ansatz? Wie passen die Europawahlen dazu?

 

von Greta Johanna Geißler


 

Seitdem die Europäer das Europäische Parlament direkt wählen dürfen, war zu beobachten, dass den Europawahlen weniger Bedeutung zugemessen wird als den jeweiligen Nationalwahlen. Laut dem Second-order elections – Ansatz von Hermann Schmitt und Karlheinz Reif aus dem Jahr 1980 wählen die europäischen Mitgliedsstaaten eher nach nationalem Interesse als nach europäischem. Der Begriff Second-order election heißt so viel wie „zweitrangige Wahlen“ und kommt eigentlich aus politikwissenschaftlichen Untersuchungen der amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Es bedeutet, dass alle Wahlen, die nicht die Wahlen zum nationalen Parlament sind, für die Wähler eher als zweitrangig gelten (also Kommunalwahlen, Bürgermeisterwahlen etc.). Nach den ersten direkten Europawahlen 1979 untersuchten Reif und Schmitt das Wahlverhalten der damaligen Mitglieder (Frankreich, Deutschland, Italien, die Beneluxstaaten, Dänemark, Großbritannien und Irland). Somit brachten sie die second-order elections auf europäische und somit auch erstmals auf eine länderübergreifende Ebene. Sie stellten für die Europawahlen folgende drei Hypothesen auf, um zu bestätigen, dass bei den Europawahlen eher nationale Interessen vordergründig sind:

  1. Die Wahlbeteiligung in den Europawahlen sinkt, da aus Wählersicht weniger für sie auf dem Spiel steht als bei Nationalwahlen.
  2. Kleine Parteien haben mehr Chancen in den Europawahlen. Die Wähler empfinden die Europawahlen als weniger wichtig und wählen nun kleinere Parteien, die eher ihre Meinung vertreten, als große Parteien, denen sie eher die Regierungsbildung zumuten.
  3. Regierungsparteien werden abgestraft in den Europawahlen.[1]

 

Bisher hat der Ansatz von Reif und Schmitt immer großen Anklang gefunden, u.a. auch, weil er sich bisher bei jeder Europawahl bestätigte. Allerdings ist der Ansatz nun schon über 30 Jahre alt und wurde von verschiedenen Wissenschaftlern, nicht zuletzt von Schmitt selbst, verbessert und erweitert. Nun besteht die EU aber nicht mehr aus den damaligen 9 Staaten, sondern hat sich fortan vergrößert. 2004 traten die Visegrád-Staaten (Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei) der EU bei. Die Visegrád-Staaten hatten vor ihrem Beitritt in die EU einen Vertrag für mehr Kooperation mit der EU und der NATO, die Zurückgewinnung der staatlichen Souveränität und die Umsetzung von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft  untereinander ausgemacht. Die Staaten verbindet u.a. auch wegen des Vertrags, eine gemeinsame, besonders durch die Sowjetzeit geprägte Vergangenheit, weshalb sie auch als besonders geeignete Untersuchungsländer gelten.

 


Zur Autorin

Unbenannt

Greta Johanna Geißler, geb.27.01.1992 in Braunschweig, studierte European Sudies im Bachelor an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg von 2012 bis 2016. In diesem Artikel stellt sie Ihre Bachelorarbeit vor.


 

Während meiner Zeit als European Studies – Studentin  habe ich mich oft mit dem Ansatz beschäftigt und letztendlich auch beschlossen meine Bachelorarbeit dem Thema zu widmen. Besonders hat mich dabei interessiert, ob mittelosteuropäische Länder den second-order election-Ansatz auch bestätigen, oder ob es eher westlich geprägte Länder sind, die in den Europawahlen national statt europäisch wählen. Dazu habe ich mir sowohl die Ergebnisse der National-, als auch die Ergebnisse der Europawahlen der vier Länder angesehen und die drei oben genannten Hypothesen auf diese angewandt. Zu folgendem Ergebnis sind meine Untersuchungen gekommen:

 

Land/Wahljahr Wahlbeteiligung Kleinere Parteien +

größere Parteien –

Regierungsparteien
Polen
2004 x x x
2009 x x
2014 x x x
Slowakei
2004 x x
2009 x x x
2014 x x x
Tschechien
2004 x x x
2009 x x x
2014 x x x
Ungarn
2004 x x
2009 x x x
2014 x

 

X Hypothese bestätigend                       – Hypothese nicht bestätigend

Die Wahlergebnisse der Visegrád-Staaten für die Europawahlen 2004, 2009 und 2014 und den jeweils vorangegangenen nationalen Parlamentswahlen grenzen sich von den Hypothesen des second-order election-Ansatzes teilweise ab. Besonders Ungarn sticht mit seinen Wahlergebnissen hervor. Eine Erklärung für die sich abgrenzenden Ergebnisse der Visegrád-Staaten im Vergleich zu den alten EU Mitgliedsstaaten, lässt sich folgendermaßen herleiten:

Wie bereits erwähnt, hat sich seit 2004 die EU um weitere 10 Staaten stark vergrößert. Allerdings sind zu den alten Parteiensystemen nun auch neue Parteiensysteme dazugestoßen, die eine Herausforderung für die Anwendung des Ansatzes darstellen: „The last or `East-ward´enlargement in particular, contributed to a growing heterogeneity of electoral systems involved in the election of MEPs: stable party systems based on (more or less) solid party alignments of its electorates are now coupled with consolidating partysystems and their highly volatile voters.“(Schmitt, 2005). Die Parteiensysteme der Visegrád-Staaten unterscheiden sich in ihrer Parteienetablierung von den alten EU Mitgliedsstaaten.

Die auffallenden Ergebnisse Ungarns können folgendermaßen erklärt werden: Das Parteiensystem Ungarns ist seit der Wahl Fideszs eher einen Schritt nach rechts gegangen und somit von einem demokratischem System abgewichen. Laut András Körösényi fehle Ungarn außerdem „eine Sozialdemokratie nach traditionellem westeuropäischem Muster“ (András Körösényi, 2002, S. 333). Im Gegensatz dazu konnten sich im tschechischen Parteiensystem 2002 mehrere Parteien etablieren (Vodička, 2002, S. 256). Es schien damals besonders stabil zu sein, da sich zwei „rivalisierende Großparteien“ (ODS und CSSD) (Ebd.), zwei Parteien der Mitte und zwei Anti-System Parteien gebildet hatten (Ebd.). Außerdem heißt es weiter, dass die Konfliktlinien in Tschechien denen in den westeuropäischen Ländern entsprächen (Kipke, 2002, S.70). Da Tschechien den second-order election-Ansatz in Gänze bestätigt hat und die Ergebnisse Ungarns hingegen dem Ansatz drei Mal widersprochen haben, könnte folgende Behauptung aufgestellt werden: Je etablierter das Parteiensystem in einem Mitgliedsstaat der EU, desto eher wird der second-order election-Ansatz bestätigt. Demnach muss entweder der second-order election-Ansatz überarbeitet werden, wie es Schmitt selbst bereits erwähnte oder die Parteiensysteme der Visegrád-Staaten müssten sich noch weiter etablieren und stabilisieren. Zu oft ist die Rede von korrupten Parteien, Finanzskandalen oder gar autoritären[2] und populistischen[3] Regierungen (im Falle von Ungarn und inzwischen auch Polen).

Schmitt äußerte sich zu den Unterschieden zwischen den alten und den neuen Mitgliedern folgendermaßen: „The reason for all these differences we propose, is in the nature of party alignments in the post-communicst democracies. In most of these countries, a stable, consolidated party system has yet to develop. Parties have been changing names and alliances from one election to the next, and in between. As a result. Many voters are changing their party preferences as well in between two first-order elections.“

Dass die Ergebnisse Polens, Ungarns und der Slowakei teilweise abweichen heißt jedoch nicht gleich, dass die Wählerschaft bei den Europawahlen eher an europäischen Themen interessiert ist. Eher bedeutet es, dass der second-order election-Ansatz auf diese Länder angepasst werden müsste.

 


[1]* Für Nerds: Laut Schmitt und Reif sinkt die Popularität der Regierungsparteien eher zum „mid-term“ hin, also in Deutschland bspw. nach zwei Jahren der Wahlperiode und nimmt wieder zu den nächsten Nationalwahlen zu. Die Nationalwahlen (in den meisten EU-Staaten alle 4 Jahre) und die Europawahlen (alle 5 Jahre) stehen in einer interessanten Beziehung zueinander: Finden die Europawahlen kurz nach den Nationalwahlen statt, wird meist dieselbe Partei gewählt. Finden die Europawahlen kurz vor den Nationalwahlen statt, gelten sie oft als Testwahlen und dieselbe Partei wird auch in den Nationalwahlen gewählt. Meistens finden aber die Europawahlen irgendwann im „mid-term“ statt, sodass Reif und Schmitt zu der Annahme kamen, dass die Regierungsparteien abgestraft werden, da die Popularität der Regierungspartei dort am geringsten ist.

[2]Konrad-Adenauer-Stiftung (26.06.2012): „Ungarn – Ein Beispiel von Renationalisierung und autoritären Tendenzen in der EU? Diskussionen zu aktuellen Problemen in der EU“, Text abrufbar unter  http://www.kas.de/brandenburg/de/events/51335/

[3]Süddeutsche Zeitung (26.05.2014): „Victor Orbán, der ungarische Volksversteher“, Text abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/populismus-in-europa-das-sind-die-europaskeptiker-1.1933410-7 (Zugriff am 26.03.2016)